"Dichterische Freiheiten"



Die Unterdrückung der dichterischen Freiheit durch die Regierung ist heutzutage und hierzulande wohl ein geringeres Problem - jedenfalls geringer als als jene dichterischen Freiheiten, die sich unsere (ab und zu wechselnden und jederzeit austauschbaren) Regierungen nun selber herausnehmen. Die aber sollten sich besser an die Wahrheit halten als an die Dichtung, vor allem im Bereich Wirtschaft und Soziales.

Um ein paar von diesen "dichterischen Freiheiten" zu nennen:

Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, über die (angesichts mauer Wachstumsraten) noch vor wenigen Jahren von morgens bis abends lamentiert wurde, war so eine dichterische Freiheit, klar widerlegt von chronischen Eportüberschüssen. Inzwischen ist längst ein Übermaß erreicht, das der gesetzlichen Forderung nach außenwirtschaftlichem Gleichgewicht hohnspricht und manchen Wirtschaftspartnern schweren Schaden zufügt.

Dass "wir" davon profitieren, ist auch eine dichterische Freiheit. Richtig ist, das die einen von "uns" mit dieser hohen Wettwerbsfähigkeit großen Reibach machen, während die anderen mit harter Arbeit bei niedrigen Löhnen diese Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen. Die schwache Kaufkraft der Geringverdiener schadet auch weiten Teilen der Binnenwirtschaft.

Dass vom Euro keiner mehr profitiert als "wir", ist eine dichterische Freiheit, die in die gleiche Richtung geht. Und die Zeche zahlt am Ende der Steuerzahler.

Dass uns der Euro den Frieden erhält, ist eine dichterische Freiheit, die an Schwachsinn grenzt. Großbritannien hat den Euro nicht eingeführt und trotzdem kam es zu keiner neuen Schlacht am Skagerrak. Dafür entstand in Südeuropa viel neuer Groll gegen Deutschland.

Dass es einer klugen Politik zu verdanken sei, dass in Deutschland die Arbeitslosigkeit abgebaut wurde, ist ebenfalls eine dichterische Freiheit. Wahr ist, dass ein schrumpfendes Arbeitsvolumen auf mehr Arbeitnehmer verteilt wurde (auch durch Teilzeitarbeit und Minijobs). Die durchschnittlichen Arbeitszeiten sind deutlich kürzer geworden, ganz im Gegenteil zu dem, was vorher politisch oft gefordert wurde: generelle Verlängerung der Arbeitszeiten, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und damit wiederum den Arbeitsmarkt.

Mehr Wachstum durch mehr Arbeit - mehr Arbeit durch mehr Wachstum - mehr Wachstum durch mehr Sparen. - Aber bitte beim Sparen nicht die Konsumlaune verlieren, denn das gibts weniger Wachstum.


(Münstersche Zeitung, 15.06.2012)

Sehr viel politische Dichtung rankt sich ums Wirtschaftswachstum. Statt schwülstiger Oden an das Wachstum, mit denen sich auch ein groß gewordenes Ossi-Mädchen immer wieder groß hervortut, tut Wahrheit not.

"Den Menschen muss reiner Wein eingeschenkt werden, damit sie ihre Kreativität auf veränderte Herausforderungen lenken. Ständig vom Wachstum zu reden und dieses als Schlüssel zum Ganzen zu betrachten, hilft nicht weiter. Mehr noch: es lähmt. Es wäre schon ein hehres Ziel, das erreichte materielle Niveau zu halten und gleichzeitig immaterielle Wohlstandsformen zu vitalisieren. Wenn das gelänge, könnten die früh industrialisierten Länder mit sich sehr zufrieden sein", meint Meinhard Miegel (ehemals Mitarbeiter von CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf und Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn in einem Interview mit Utopia).



http://www.pdwb.de/nd31-dicht.htm

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